Weltfrauentag 2025

Liebe Enkelin,

du lernst gerne, bist super schlau und sehr gut in der Schule. Deine Urgroßmutter Isolde war das auch. Frauen aus ihrer Generation hatten selten die Möglichkeit, Abitur zu machen. Für Isolde war es ein großes Privileg, die Handelsschule besuchen zu dürfen. Nach dieser Ausbildung arbeitete sie mit großer Freude als Sekretärin, bis sie deinen Urgroßvater kennenlernte und heiratete. Nach der Heirat blieb sie zu Hause und war Hausfrau und Mutter.
Als dein Großvater Peter nach dem Abitur wegzog, langweilte sie sich. Langeweile war ein Gefühl, das Isolde so gar nicht mochte. Zum Glück hatte sie immer viele Ideen, um das Gefühl der Langeweile gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Was war ihre Lösung? Sie lebte in einer kleinen Stadt. Zum Glück gab es in der Nachbarstadt eine Pädagogische Hochschule. Dort wurden jeden Dienstag Vorträge und Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen angeboten. Das war genau das, was sie brauchte und suchte. Die so genannte Seniorenhochschule war ihr Ding. Über 20 Jahre lang besuchte sie dort Kurse, die sie interessierten. Sie liebte ihren Literaturkreis und die Vorträge über Kunstgeschichte, Geschichte und Architektur. Wie ein Schwamm saugte sie alles auf. Zu den Seminaren gab es Studienreisen. Diese Reisen liebte sie. So bereiste sie Frankreich und Italien. Aber auch in Deutschland kam sie herum. Von ihren Reiseerfahrungen konnte sie stundenlang erzählen. Da leuchteten ihre Augen und stolz zeigte sie die dazugehörigen Fotos. Mit ihrem neu erworbenen Wissen überraschte sie uns immer wieder. Wenn wir zum Beispiel mit ihr eine Kirche besichtigten, konnte sie uns so viel über die einzelnen Stilelemente erzählen. Wir waren immer ganz begeistert, was wir alles von ihr lernten. Aber auch die Bücher, die sie in ihrer Literaturgruppe las, beschäftigten sie. Sie erzählte von ihnen und freute sich, wenn wir ihre Lesetipps aufgriffen und wir darüber mit ihr diskutieren konnten. Frag mal deinen Papa. Er erinnert sich sicher auch an ihr breites Wissen, das sie oft ganz unvermittelt abrufen konnte.

Durch diese Erfahrung wirkte sie lange Zeit jünger, als sie nach ihrem Alter war. Eine Enkelin, die Tochter von Peters Schwester sagte einmal, du bist unsere junge Oma.

Liebe Enkelin, ich wünsche dir, dass du immer Lust hast, etwas Neues zu lernen. Weißt du, das Gehirn ist wie ein Muskel. Es muss regelmäßig gefordert und trainiert werden. Aber wie man trainiert, weißt du ja, meine Liebe.

Viele Grüße,

Deine Oma Regina

Alle Frauen der Familie, über die ich und meine Schwägerin bisher schrieben:

2 Kommentare

  1. Diese Briefe finde ich eine gute Idee, um einen Blick auf das Leben von Vorfahren zu werfen! Das war dann also deine Schwiegermutter, die interessiert blieb, ein Vorbild!
    Ich denke schon länger darüber nach, das Leben meines Großvaters, an den ich mich nicht erinnern kann, aufzuschreiben. In Briefform erscheint mir die Aufgabe ein bisschen einfacher…
    lg

    1. Liebe Friederike, um Vorbilder geht es mir, da hast du recht. Ich möchte meiner Enkelin die starken Frauen in unserer Familie vorstellen. Ich bin gespannt auf deine Schreiberfahrung mit dem Großvater. Über eine Person zu schreiben, die ich selbst nicht erlebt habe, finde ich gar nicht so einfach. Aber man kennt ja die Erzählungen über die Person. Das hilft. Viele Grüße, Regina

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