Weltfrauentag 2023 – Teil 1

Liebe Enkelin,

auch in diesem Jahr erhältst du einen Brief zum Weltfrauentag von mir. Ich werde dir über die Mutter meiner Mutter, Oma Mina, erzählen. Sie wuchs im fränkisch geprägten Nordosten von Baden-Württemberg in Fichtenberg in einem kleinen Häuschen an einem Bahndamm auf. Ihr Vater war nämlich Bahnwärter und sie mussten früher direkt an den Gleisen wohnen. Die Bahnwärter waren unter anderem zuständig, die Schranken an den Bahnübergängen zu bedienen, falls notwendig, die Weichen zu verstellen und Beschädigungen feststellen. Alles in allem sollten die durchkommenden Züge pünktlich und sicher den nächsten Ort erreichen.

Diese Bahnlinie, an der Mina wohnte, wurde 1877-80 erbaut. Fichtenberg, obwohl eine kleine Gemeinde (heute ca. 3000 Einwohner*innen), war ab diesem Zeitpunkt sehr gut zum Beispiel von Stuttgart oder Schwäbisch Hall zu erreichen.

Man könnte sich nun vorstellen, dass Mina Abenteuer-und Reiselust bekam, erlebte sie doch täglich das verführerische Rattern und dampfende Schnaufen der Züge. Vielleicht hatte sie manchmal Fernweh. Jedoch wohnte sie ihr ganzes Leben in Fichtenberg und große Reisen gehörten nicht zu ihrem Leben.

Ich denke, sie genoss das überschaubare dörfliche Leben, war sie doch nach der Heirat mit ihrem Jakob eine tüchtige Geschäftsfrau. Jakob war Bäcker und neben der Bäckerei hatten die beiden noch einen gutbestückten Dorfladen, beides Dinge, die wichtig sind. Du musst dir vorstellen, hier wurde alles, was in Fichtenberg passierte, besprochen und von allen Seiten beleuchtet.

Die dörfliche Gemeinschaft gibt Sicherheit. Man bekommt Hilfe, wenn man diese braucht. Oma Mina konnte nicht genug Hilfe erhalten. Ihre beiden Brüder starben im Ersten Weltkrieg. Das war traurig und erschütterte sie.

Später benötigte sie Hilfe, als ihr Mann viel zu früh starb. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verschleppte Jakob eine Grippe und das notwendige Medikament Penicillin, zur Heilung seiner Herzmuskelentzündung, war nicht zu erhalten. So starb er und Oma Mina war erst 45 Jahre alt. Leider war die finanzielle Vorsorge, die ihr Mann getroffen hatte, durch die damalige Inflation nicht mehr viel wert. Ab diesem Zeitpunkt musste Oma Mina mit ihrem Geld sehr haushalten.

Die dörfliche Gemeinschaft gibt Sicherheit. Das war richtig gut für Oma Mina. Auf der anderen Seite kann die Gemeinschaft einengend sein. Du fragst, weshalb?

Liebe Enkelin, du hast vor nicht allzu langer Zeit einen Moonhopper geschenkt bekommen. Auf dem kannst du fröhlich durch die Wohnung hüpfen. Ich fragte dich, ob das die Leute unter euch störe. Unbekümmert antwortetest du: „Oh, das ist mir egal.“ Deine Antwort hat mir gut gefallen.

So wie ich meine Oma Mina selbst erlebte, hat sie sich oft gefragt, was schicklich ist oder nicht. Meine Oma Mina und meine Mutter, beide an die Regeln einer Dorfgemeinschaft gewöhnt, verhielten sich meist angepasst. Angemessenes Verhalten wurde eingefordert! Natürlich ist es richtig, aufeinander Rücksicht zu nehmen, wenn wir in einer Gemeinschaft leben. Trotzdem ist es gut, einfach mal zu hüpfen.

Es gibt jedoch nicht nur Einengendes, was ich mit Oma Mina verbinde. Mit ihr verbinde ich Küche, Schnippeln, dampfende Töpfe, riesige Berge an Spätzle und gute Gerüche. Genau wie Oma Pauline, von der ich dir im letzten Jahr erzählte, war Oma Mina für einen großen Haushalt zuständig. Neben ihren 3 Töchtern und ihrem Mann gab es im Bäckerhaushalt Lehrlinge, Gesellen und Angestellte. Zum Glück kochte Oma Mina sehr gerne und alles schmeckte supergut bei ihr. Besonders gerne mochte ich ihren Apfelkuchen. Ein weiteres Rezept von ihr ist der Schwäbische Salzkuchen, eine Art Pizza. Dieses Familienrezept füge ich im Andenken an Oma Mina, deiner Ururgroßmutter, bei. 

Deine Oma Regina

2 Kommentare

  1. Ein sehr liebevoller Text liebe Regina! Und jetzt weiß ich auch, woher deine Kochlust kommt. Die lieben Gene und duftende Gerichte in großen Töpfen sind eine sehr sinnliche Beigabe in deiner Kindheit. Nora kann sich freuen!

    1. Liebe Ingrid, vielen Dank für deinen Kommentar. Vielleicht kommt meine Liebe zum guten Essen tatsächlich von meiner Oma, vielleicht auch von meiner Mutter. Wer weiß! Viele Grüße, Regina

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